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«Volkswille» und Verfassungsauslegung

Astrid Epiney ist Professorin und Direktorin am Institut für Europarecht der Universität Freiburg i. Ü. sowie Rektorin der Universität.

Gastkommentar in der NZZ vom 1. Oktober 2016 über die Zuwanderungsinitiative[1]

Es ist wenig hilfreich, mit dem Verweis auf einen «Volkswillen» zu insinuieren, der Nationalrat verlasse den Pfad der vertretbaren juristischen Auslegung.

Die derzeit laufende Debatte um die Umsetzung des Art. 121a BV (Zuwanderung) dreht sich auch um die Auslegung und die Tragweite dieser Bestimmung. Wie in solchen Fällen üblich, wird in der Debatte gerne auf den «Volkswillen» rekurriert, der nicht «missachtet» werden dürfe. Dabei geht vergessen, dass der «Volkswille» als solcher kein Element für die Auslegung rechtlicher Bestimmungen im Allgemeinen und verfassungsrechtlicher Vorgaben im Besonderen darstellt: Dies beruht vielmehr – ausgehend vom Wortlaut einer Bestimmung – auf der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift (historische Auslegung), ihrer Einbettung in den Kontext (systematische Auslegung) sowie ihren Zielsetzungen (teleologische Auslegung). Im Übrigen sind die verschiedenen Verfassungsbestimmungen gleichrangig, so dass nicht eine Norm prinzipiell Vorrang vor einer anderen beanspruchen kann.

Von Bedeutung ist dabei auch, dass die Einheit der Verfassung im Blick zu behalten ist, so dass die Auslegung auch einem «ganzheitlichen Verfassungsverständnis» verpflichtet ist und so zu erfolgen hat, dass innerhalb der Verfassung möglichst wenige Widersprüche auftreten. Ganz allgemein ist immer zu beachten, dass Rechtsnormen – auch Verfassungsrecht – der Auslegung bedürfen, und da auch die Aussage, eine Norm sei «klar», bereits eine Auslegung impliziert, gibt es grundsätzlich keine «klaren» Normen.

Lässt sich eine bestimmte Auslegung in nachvollziehbarer Weise auf die skizzierten Methoden stützen, so geht es um eine zulässige Auslegung; ist dies nicht (mehr) der Fall, wird die Grenze zur (unzulässigen) Rechtsfortbildung überschritten. Ihre Anwendung soll sicherstellen, dass die Grenze zwischen zulässiger Auslegung und «Verfassungs- bzw. Gesetzeskorrektur» beachtet wird, womit es letztlich um die Legitimität der Auslegung geht. Welche nun die «richtige» bzw. die verbindliche Auslegung einer Verfassungsnorm ist, entscheidet auf Bundesebene mangels Verfassungsgerichtsbarkeit das Parlament letztverbindlich – wobei aber das Referendum gegen das Gesetz ergriffen werden kann.

Vor diesem Hintergrund wäre es einer sachlichen Debatte dienlich, in der Auseinandersetzung um die Verfassungsauslegung die erwähnten grundlegenden Argumentationslinien zu beachten und auf die Anrufung des «Volkswillens» – der zudem letztlich nicht verlässlich ermittelbar ist, so dass er (wie die gegenwärtige Debatte um Art. 121a BV auch trefflich illustriert) für verschiedene Auslegungsvarianten herangezogen werden kann – zu verzichten. Erfolgen könnte dann eine Konzentration auf die wirklich relevanten Auslegungselemente, in deren Rahmen auch die Diskussionen im Zuge der Entstehung einer Norm (nicht aber der «Volkswille» oder der Wille der Initianten als solche) durchaus eine Rolle spielen können, dies allerdings neben allen anderen erwähnten Aspekten.

Im Zusammenhang mit Art. 121a BV dürfte dabei insbesondere Aspekten des systematischen Zusammenhangs und dem Grundsatz, dass Verfassungsbestimmungen soweit möglich so auszulegen sind, dass innere Widersprüche in der Verfassung vermieden werden können, eine besondere Bedeutung zukommen. Betrachtet man den Entwurf des Nationalrates zur Umsetzung des erwähnten Verfassungsartikels, so erscheint es jedenfalls gut vertretbar, von seiner Verfassungskonformität auszugehen: Denn Art. 121a und die dazugehörige Übergangsbestimmung verpflichten nach (soweit ersichtlich) einhelliger Meinung jedenfalls nicht zur Kündigung des Freizügigkeitsabkommens.

Es könnte also einiges dafür sprechen, im Falle des Fehlschlagens von Neuverhandlungen und des Ausbleibens einer Kündigung des Abkommens davon auszugehen, dass Art. 121a BV eben nur zu solchen Massnahmen verpflichtet, welche im Einklang mit dem (nach wie vor geltenden) Abkommen stehen. Hinzu kommen diverse inhaltliche Unstimmigkeiten in der Verfassungsnorm selbst sowie in ihrem Bezug zu anderen Verfassungsartikeln.

Damit ist nicht ausgeschlossen, dass auch andere Ansichten vertretbar sind und dass für diese gute Argumente sprechen können. Wenig hilfreich erscheint es hingegen, mit dem Verweis auf einen «Volkswillen» zu insinuieren, die vom Nationalrat vertretene Ansicht verlasse den Pfad der vertretbaren juristischen Auslegung. Ein solcher Ansatz hält weder einer genaueren Prüfung stand, noch ist er einer rationalen Diskussion dienlich, wird doch der anderen Ansicht von vornherein die Legitimation abgesprochen, dies zudem unter Rückgriff auf ein Kriterium, das eben als solches gar nicht zum Kanon der Auslegungskriterien – die letztlich auch vor dem Hintergrund der Grundsätze der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit zu sehen sind – gehört.

[1] Link zur Quelle: http://www.nzz.ch/meinung/zuwanderungsinitiative-volkswille-und-verfassungsauslegung-ld.119739#kommentare

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